Lehrer für einen Tag
Nach Sonneberg und Hildburghausen hat nun auch die Wefa in Eisfeld den bundesweiten Aktionstag „S(ch)ichtwechsel“ absolviert. Anders als bei den Kollegen jedoch ist weder Industrie noch Verwaltung das erklärte Ziel in Eisfeld gewesen.
Eisfeld – Patrice Nolle macht sich auf den Weg zur Regelschule „Otto Ludwig“ in Eisfeld. Ein alt bekannter Weg, den der heute 20-Jährige lange Jahre zwar nicht in Eisfeld, jedoch in Hildburghausen ging. Doch etwas ist anders an diesem Dienstag: Patrice Nolle geht den Weg nicht mehr, er fährt ihn. Denn seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren sitzt er im Rollstuhl und arbeitet momentan in der Wefa Eisfeld. Doch dank des Schulumbaus ist der Zugang zur Bildungseinrichtung für ihn kein Problem. Entsprechende Rampen finden sich auf der Gebäuderückseite, ein Fahrstuhl sorgt für den barrierefreien Transport in die oberen Etagen.
Hier trifft Patrice Nolle pünktlich zur zweiten Schulstunde im Ethikunterricht von Schulleiterin Heidrun Schleicher und der sechsten Klasse ein. Wie es sich für einen Besucher gehört, stellt er sich den Schülern vor. Es ist „S(ch)ichtwechsel“, eine deutschlandweite Aktion der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Menschen mit Behinderung (BAG WfbM), bei der Menschen mit und ohne Behinderungen in ganz Deutschland ihren Arbeitsplatz tauschen und so die jeweils andere Arbeitswelt kennenlernen.
Glück und Leid stehen heute bei Heidrun Schleicher auf dem Stundenplan – Themen, die jeden Menschen irgendwann einmal mehr oder weniger beschäftigen. Themen, mit denen sich Patrice zwangsläufig auseinandersetzen musste. Zunächst zaghaft, dann immer mutiger tragen die Schüler Ereignisse zusammen, die sie entweder dem Glück oder dem Leid zuordnen. Krankheiten wie Krebs oder Herzinfarkte, Unfälle und Tod sammeln sich auf der Leid-Liste; Familie, Liebe, Vertrauen und Leben finden ihren Platz auf der Glücksseite. Und schnell wird allen klar: Das, was Patrice erlebt hat, gehört sowohl zur einen als auch zur anderen Seite. „Patrice kann uns allen ein Vorbild sein mit seiner Lebensfreude, seiner Energie, die er trotz seines tragischen Schicksals nicht verloren hat“, sagt Schleicher. Ein Charakterzug, den auch Verena Müller von der Wefa Hildburghausen sehr an dem 20-Jährigen schätzt: „Es gibt kaum einen Tag, an dem Patrice nicht fröhlich in die Werkstatt kommt und auch andere damit ansteckt, die vielleicht mal einen schlechten Tag haben“, erzählt sie.
Geduldig stellt er sich den vielen Fragen der Schüler. Fragen nach seinem Schlaganfall, danach, wie er damit umgegangen ist, als 14-Jähriger plötzlich aus seinem gewohnten Leben gerissen zu werden. Fragen nach seinem Arbeitsalltag in der Wefa. Frei und ohne Berührungsängste beantwortet er die Fragen, freut sich über das Interesse und gibt zu, dass er auch schwere, dunkle Zeiten durchlebt hat. „Fast ein Jahr habe ich gebraucht, um wieder halbwegs fit zu werden“, sagt er. Bald wird er zurück in die Nähe von Sondershausen ziehen, wo er bis zu seinem siebten Lebensjahr gelebt hat. Dort gibt es ebenfalls eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, und einen Platz in einer Wohngruppe mit fünf Mitbewohnern hat er auch schon gefunden. Während sich Patrice Nolle aufgeregt über seinen Umzug und den neuen Lebensabschnitt freut, ist Verena Müller ein bisschen traurig: „Er wird uns wirklich sehr fehlen“, sagt sie.
Zeitgleich im Berufsbildungsbereich (BBB) der Eisfelder Wefa hat die pädagogische Assistenzkraft Anja Popp die Arbeit von Patrice Nolle übernommen. Hier werden Rouladennadeln versandfertig gemacht. „Konfektioniert“, korrigiert Juri Heinze, Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung in der Wefa Eisfeld. Eine Arbeit, die Fingerspitzengefühl verlangt, wie Anja Popp schnell merkt: „Die Beschäftigten haben den größten Respekt von mir“, sagt sie. „Man muss sich sehr konzentrieren, um vor allem die kleinen Einzelteile ordnungsgemäß zusammenzufügen, damit die Ware sicher beim Kunden ankommt.“
Dann wechseln Patrice Nolle und Anja Popp wieder ihren Arbeitsplatz: Der Eine in die Werkstatt, die Andere zurück in die Schule. Ein spannender Tag für beide Seiten, der allen ungewohnte Einblicke schenkte und viele zum Nachdenken brachte.